Wenn Igel träumen ...
Eine Elfengeschichte von kellergoethe. Die Rechte liegen beim Autor. Jegliche Veröffentlichung und Vervielfätigung
bedarf der vorherigen Genehmigung.
Teil 1
Ganz langsam brachte der Herbst seine beruhigenden warmen Farben in das Tal der Elfe
Sasana am Fuße des Berges Porot. Mehr und mehr braune Tupfer – mal gelblich, mal
rötlich getönt – sammelten sich auf Bäumen und Sträuchern, von
denen einige wie in Honig getaucht aussahen.
Zwar lachte die Sonne noch immer vom Himmel, doch ihre Strahlen besaßen nicht
mehr die sengende Kraft, mit der sie noch vor wenigen Wochen alle unter der Hitze
erstöhnen lassen hatten. Wolken zogen über das Tal hinweg, und der Wind
schien seine Freude daran zu haben, sie mit seinem Hauch zu immer neuen Gebilden zu
formen und blies sie mal kräftig, mal sanft streichelnd vor sich her.
Es galt Abschied von Freunden zu nehmen, die es vorzogen, den Winter in wärmeren
Gefilden zu verbringen. Alle trösteten sich mit dem Gedanken an die
Wiedersehensfeier im Frühling.
Für diejenigen, die im Tal zurückblieben, war der Herbst eine sehr
geschäftige Zeit. Es gab viel zu tun – schließlich mussten Vorbereitungen
für den bevorstehenden Winter getroffen werden. Die einen legten Vorräte an,
um auch zu einer Zeit, zu der eine dicke Schneedecke die Nahrungssuche erschweren
würde, genug zu fressen zu haben. Die anderen richteten ihre Behausungen so her,
dass sie es auch bei klirrendem Frost kuschelig haben würden.
Zu dieser Jahreszeit konnte man hin und wieder auch tagsüber Nachbarn sehen, die
es ansonsten vorzogen, erst in der Nacht ihre Wohnungen zu verlassen. Sie machten
sich schon zu ungewohnter und heller Stunde an die Arbeit, um rechtzeitig mit allem
fertig zu werden, was unbedingt noch vor dem Winter erledigt werden musste. Niemand
wollte unvorbereitet von der ersten Kältewelle erwischt werden.
Die Vorratskammer der Familie Haselmaus war schon recht gut gefüllt. Dennoch
spürte Frau Haselmaus noch immer eine seltsame innere Unruhe. Forschend blickte
sie zu Herrn Haselmaus hinüber und stellte beinahe erleichtert fest, dass auch
er noch recht besorgt auf den Berg von Vorräten schaute.
"Ich glaube, es wird ein sehr langer Winter", meinte er und sah seine Frau
an.
Diese nickte zustimmend. "Das glaube ich auch."
"In den letzten Tagen habe ich sehr häufig an jenen Winter denken
müssen, den wir nur mit knapper Not und mit viel Glück überstanden
haben", fuhr Herr Haselmaus fort. "Wir sollten die Vorratskammer lieber
noch etwas vergrößern und dann bis zur Decke füllen."
Tiere haben ein sehr gutes Gespür für bedrohliche Veränderungen.
Familie Haselmaus hatte sich bisher jedenfalls immer auf das Gefühl der sich
erinnernden Ahnung verlassen können, das manchmal auf seltsame Weise Vergangenes
mit Kommendem verbindet.
Und so machte sich Herr Haselmaus an diesem Nachmittag an den Umbau der Vorratskammer,
während Frau Haselmaus wieder loszog, Nahrung zu suchen.
Das Tal der Elfe Sasana war zwar weithin dafür bekannt, dass in ihm Frieden
herrschte, doch dies war für Frau Haselmaus kein Grund, die nötige Vorsicht
zu vergessen. Immerhin tauchten auch hier von Zeit zu Zeit mal Besucher von nicht
eben friedfertiger Natur auf. Außerdem mochte sie es ganz und gar nicht, bei
der Helle des Tages unterwegs zu sein.
Darum nutzte sie jede Deckung, die sich ihr bot. Manchmal galt es, zwischen zwei
Sträuchern eine kurze Strecke ohne jede Möglichkeit des Verstecks zu
überwinden. Dann verharrte sie immer im Schutz des Strauches und prüfte
die Umgebung mit allen ihren Sinnen. Nur, wenn sie eine Gefahr weder riechen,
hören, schmecken, sehen, noch fühlen konnte, wagte sie sich ins Freie. Und
auch dann huschte sie so schnell sie nur konnte los, um im Zickzack-Lauf den
nächsten Strauch zu erreichen.
Gerade setzte sie wieder zu einem solch heiklen Lauf an, als ein plötzliches
Geräusch in ihrer Nähe sie doch noch für einen kurzen Moment erstarren
ließ. Doch schon duckte sie sich und versuchte, sich so eng sie es vermochte, an ein
großes Blatt zu schmiegen, um es suchenden Blicken so schwer zu machen, wie es
nur ging, sie zu entdecken. Ein kaltes Rieseln strich ihr über das
Rückenfell.
"Das war aber knapp", dachte sie bei sich. "Fast wäre ich schon
losgerannt. Das ist gerade noch einmal gut gegangen."
Ganz vorsichtig blickte sie nun in die Richtung, aus der sie glaubte, das
Geräusch gehört zu haben. Durch die herabhängenden Zweige des Strauchs
hindurch konnte sie nichts Bedrohliches entdecken – nur einen etwas entfernten Baum,
eine Brombeerhecke, Farne und Gräser, einen Laubhaufen. Wer oder was hatte also
dieses merkwürdige Geräusch verursacht?
Zögernd und schnuppernd richtete sie sich wieder etwas auf, um noch besser sehen
zu können. Saß da jemand versteckt wartend in der Brombeerhecke?
Mißtrauisch strichen ihre Augen an der Hecke entlang. Nichts Ungewöhnliches war
zu sehen. Dennoch überlegte sie, ob es vielleicht besser sei, die Richtung zu
wechseln und einen anderen Weg einzuschlagen.
Mitten in diese Gedanken hinein ertönte wieder das seltsame Geräusch. Es
klang nun beinahe wie ein tiefes Seufzen. Und es kam auch mit Sicherheit nicht aus
der Brombeerhecke. Vielmehr erregte nun der Laubhaufen, dem sie bisher kaum Beachtung
geschenkt hatte, ihre Aufmerksamkeit.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass diese Ansammlung von Blättern durchaus nicht so
aussah, als sei sie zufällig entstanden. Hatte da jemand das umher liegende
Laub zusammengetragen, um sich darunter zu verstecken?
Alarmiert heftete sie ihren Blick fest auf den Haufen.
Und dann bewegte sich etwas – nicht
in dem Laub, sondern
auf ihm.
Frau Haselmaus schob den Kopf noch etwas vor und atmete dann erleichtert auf. Ganz
oben auf dem Laub und vom niedrigeren Standort der kleinen Maus aus nur sehr schwer
zu erkennen, lag ein Igel – nein, es war eine Igelin.
Frau Haselmaus wagte sich nun ein Stück vor und rief die Igelin an:
"Hallo Nachbarin! Geht es dir nicht gut? Brauchst du Hilfe?"
Die Igelin zuckte zusammen und blickte sich um.
"Hast du mich aber erschreckt", entfuhr es ihr, als sie die Haselmaus
entdeckte. "Ich war so in meine Gedanken vertieft, dass ich meine Umgebung
völlig vergessen habe."
"Es tut mir leid, dass ich dich gestört habe", erwiderte die Haselmaus.
"Und es war auch nicht meine Absicht, dich zu erschrecken – aber andererseits:
so sind wir beinahe quitt." Und bei diesen Worten lächelte sie. "Du
hast mir nämlich auch einen gehörigen Schrecken eingejagt."
"Ich?" fragte die verdutzte Igelin. "Aber ich habe doch gar nichts
getan."
"Doch, doch", lachte die Haselmaus. "Du hast geseufzt, dass mir angst
und bange wurde. Hattest du so traurige Gedanken?"
"Es waren sogar sehr schöne Gedanken", erklärte die Igelin sehr
bestimmt. "Ich habe die Wolken beobachtet und mich über all die Bilder
gefreut, die sie an den Himmel malen. Um besser sehen zu können, habe ich das
Laub hier aufgehäuft. So liegt es sich auch viel bequemer."
"Ist es nicht eine etwas seltsame Beschäftigung für einen Igel, am
helllichten Tag den Wolken bei ihrer Wanderung zuzusehen?" fragte die Maus
verwundert.
"Findest du?" fragte die Igelin zurück. "Mir macht es nun einmal
Spaß. Und es lässt sich so schön dabei träumen."
Sie blickte wieder zum Himmel empor und rief erstaunt aus: "Sieh nur! Sieh hin!
Das da oben könntest du sein!"
Die Haselmaus schaute nach oben und sah tatsächlich eine Wolke, die beinahe wie
eine gemalte Haselmaus aussah. Gebannt hing der Blick der beiden Tiere an dem
Wolkengebilde, das hoch über ihren Köpfen hinweg zog und dabei im Wind
wieder ganz langsam eine neue Form annahm.
"Oh ja", sagte die Maus nach einer Weile fast ehrfürchtig, "das
ist wirklich schön. So schön, dass ich mir beinahe wünschte, ich
könnte dort oben auf einer Wolke sitzen und mit ihr ziehen."
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Dann sagte die kleine Maus: "Aber ich
muß ja noch Vorräte für den Winter suchen." Und dabei entrang sich
ihrer Brust ein Seufzer.
"Siehst du", lachte die Igelin, "nun hattest du einen ähnlichen
Gedanken, wie ich ihn hatte. Wäre es nicht herrlich, wie eine Wolke hoch oben
über der Welt zu schweben und sie in ihrer ganzen Pracht zu sehen, statt immer
nur so mickrig am Erdboden zu kleben?"
Die Haselmaus nickte bestätigend. "Ja, das müßte ganz toll sein. Aber
wer weiß schon, ob es die Wolken wirklich so leicht haben."
"In meinen Träumen haben sie es so leicht", erwiderte die Igelin.
"Und Träume sind ja dazu da, es leichter zu machen."
"Es gibt aber auch Träume ...", begann die Haselmaus einen Einwand.
Doch die Igelin unterbrach sie sehr schnell:
"Ich wußte, dass du dies jetzt sagst. Du bist halt dem Erdboden näher,
als ich es auf dieser Laubwolke bin. Ich kenne solche Träume, die du meinst,
natürlich auch. Viel lieber mag ich aber die schönen. Ich versuche halt,
sie mit in die Winterruhe zu nehmen, damit dort böse Träume gar keine
Chance haben. Wenn die Nacht hereinbricht, werde auch ich mich wieder an den Bau
meines Winternestes begeben. Doch jetzt möchte ich noch ein Weilchen hier liegen
und Träume sammeln."
"So sammelt eben jeder eigene Vorräte", sagte die Haselmaus. "Ich
wünsche dir, das alles so wird, wie du es dir erträumst."
Und dann verabschiedeten sich die beiden Tiere, um jedes für sich wieder der
eigenen Beschäftigung nachzugehen.
Frau Haselmaus schaffte den ganzen Nachmittag und die darauf folgende Nacht emsig und
unermüdlich Vorräte zu ihrem Bau, in dem die Vorratskammer immer
größer wurde, weil auch Herr Haselmaus nicht untätig in der Ecke lag.
So vergingen einige Tage, in denen Frau Haselmaus manchmal inne hielt und an ihr
Gespräch mit der Igelin zurückdachte.
Als der Umbau der Vorratskammer fertig war, half auch Herr Haselmaus bei der
Futtersuche für den Winter mit. Immer, wenn der Morgen graute, fielen die beiden
Mäuse sehr müde auf ihre Lager, um den Tag über zu schlafen.
Eines Morgens jedoch geschah etwas, was den beiden Haselmäusen den Schlaf
raubte und auch alle anderen Tiere in diesem Teil des Tales am Fuße des Berges
Porot in ziemlichen Aufruhr versetzte.
Der Erdboden bewegte sich plötzlich. Er bebte und zitterte und schüttelte
alles durcheinander, was nicht fest verankert war. Und zur gleichen Zeit ertönte
ein fürchterlich lautes Geräusch – so, als schlage jemand mit einer
riesigen Keule auf die Erde. Und das nicht nur einmal oder zweimal, sondern in einer
lang anhaltenden und schnellen Reihenfolge von Schlägen, die schier nicht enden
wollte.
Als das Dröhnen und Beben schließlich nach einer halben Ewigkeit
nachließ, schlotterten allen Tieren die Knie. So etwas hatten sie noch nie
erlebt. Was war das nur? Niemand wußte sich Rat.
Und so kam es, dass sich einige von ihnen auf den Weg zur Silberlinde machten, um
Sasana um Hilfe zu bitten.
In der Umgebung der Silberlinde der Elfe Sasana erwachte dieser Tag ebenso friedlich
und ungestört, wie unzählige Tage vor ihm. Kein frühmorgendliches
Beben, kein ohrenbetäubendes Dröhnen, keine zu Tode erschrockenen
Talbewohner – alles verlief, wie an jedem anderen Morgen auch.
Die Erlenbachaue, in der sich das zuvor Geschilderte zugetragen hatte, lag recht weit
entfernt. Das, was dort auch immer geschehen sein mochte, hatte sich nicht bis hin zu
der Silberlinde bemerkbar gemacht. Und es dauerte auch etwas, bis die ersten Berichte
über die Geschehnisse die Elfe erreichten.
Zuerst trafen einige Vögel ein und erzählten vielstimmig von den Ereignissen.
Sasana schüttelte verwundert und beinahe ungläubig den Kopf.
Doch dann kamen immer weitere aufgeregte und verängstigte Tiere zu ihr. Sie alle
berichteten von dem grauenhaften Beben und dem entsetzlichen Lärm – und auch von
der Furcht, die sie ergriffen hatte.
"Ich habe schon davon gehört, dass die Erde von Zeit zu Zeit in mancher
Gegend von solchen Beben erschüttert wird. Aber keines dieser Beben hat auch nur
in erreichbarer Nähe dieses Tals stattgefunden", stellte die Elfe fest.
Aus der Miene ihrer Freundin und Beraterin Gorama sprachen auch erhebliche Zweifel.
"Wenn es tatsächlich ein Erdbeben gewesen sein sollte, hätten wir doch
hier auch etwas davon merken müssen", meinte die Taube. "Ich habe noch
nie vernommen, dass nur eine einzelne Aue in einem Tal gebebt hätte. Es muß
etwas anderes gewesen sein."
"Stimmt", erwiderte Sasana. "Doch was könnte es sonst gewesen sein?"
Auf diese Frage wußte niemand eine Antwort.
Nach einer Weile des Schweigens und Überlegens atmete Sasana tief ein und erhob
sich dann von ihrem Sitzplatz.
"Wie es scheint, muß ich die Sache mal aus der Nähe betrachten", sagte sie.
Als sie ihre Laubhütte verließ, bemerkte sie die große Anzahl Tiere,
die sich mittlerweile davor eingefunden hatte. Sie kamen nicht alle von der
Erlenbachaue, sondern auch aus anderen Teilen des Tales, denn solche
Schreckensbotschaften verbreiteten sich immer in Windeseile. Und alle wollten wissen,
wie es denn nun weiter ging.
Unter den Versammelten erblickte Sasana in einiger Entfernung auch Kandar, das junge
Wildpferd, das mit ihr gemeinsam den Zwerg Orin besucht hatte.
Sie schwebte auf ihn zu, sah ihm fest in die Augen und fragte:
"Traust du dich, mich so schnell es nur geht, zur Erlenbachaue zu tragen? Ich
muß dort nach dem Rechten sehen. Du wirst ja schon davon gehört haben, dass es
vielleicht gefährlich ist, sich dort aufzuhalten. Wenn du also lieber hier
bleiben möchtest, würde ich es verstehen."
Kandar zögerte keinen Augenblick und erwiderte:
"Für dich ist es ebenso gefährlich, und du gehst dennoch. Warum
sollte ich dir also die Hilfe verweigern? Steig nur auf, damit wir losreiten
können."
Sasana strich ihm dankbar mit der Hand über die lange Nase bis hinunter zu den
Nüstern. "Schön, dass ich mich auf meine Freunde verlassen kann",
sagte sie.
Dann schwebte sie in die Höhe und nahm auf dem Rücken des Wildpferdes Platz.
Kandar wartete, bis die Elfe sicher saß und sich mit den Händen an seiner
Mähne festhielt. Dann aber wandte er sich um und trabte an.
"Halte dich gut fest!" rief er Sasana über die Schulter zu. "Ich
wechsle in den Galopp."
Die Elfe antwortete nicht, sondern legte stattdessen ihre Arme fest um den Hals des
Pferdes.
Und dann begann ein Ritt in rasendem Galopp.
Kandar hatte sie ja schon einmal getragen und wußte genau, um welche Bäume er
einen Bogen schlagen mußte und welche den Ritt der Elfe nicht gefährden
würden. So näherten sich die beiden mehr und mehr der Erlenbachaue.
Einmal mußte Kandar all sein Können aufbringen, um noch im letzten Moment einem
sehr alten Igel auszuweichen, der unversehens vor seinen Füßen auftauchte.
"Ah!" rief der Igel außer Atem, "gut, dass ich euch treffe. Ich
muß euch etwas erzählen."
Doch bevor er weiter sprechen konnte, spurtete Kandar schon wieder los. Sasana, die
Mühe hatte, auf dem Pferd ihr Gleichgewicht zu halten, rief:
"Es ist schon gut! Ich weiß es bereits – die Erde hat gebebt!"
"Ja, das auch", rief der Igel eilig zurück. "Doch ich muß dir
noch etwas Wichtigeres sagen!"
Wildpferd und Elfe waren aber mittlerweile schon wieder außer Hörweite.
"Na, toll", brummte der Igel. "Nun muß ich den ganzen Weg wieder
zurück."
Und obwohl er schon recht abgekämpft aussah, nahm er tapfer den Rückweg auf.
Kandar rannte, als ginge es um sein Leben. Wildpferde sind sehr ausdauernde
Läufer, und Kandar gehörte zu den kräftigsten und geübtesten von
ihnen. Er unternahm seine ausgreifenden Galoppsprünge so gleichmäßig
und in so schneller Folge, dass er beinahe wie ein Pfeil dahin zu fliegen schien. Und
so näherten sich die beiden - noch bevor die Sonne ihren höchsten Stand
erreichte - der Erlenbachaue.
Sasana versuchte, schon während des eiligen Rittes etwas zu entdecken, was mit
den Ereignissen des frühen Morgen zusammenhängen konnte. Doch das war bei
dem Tempo, das Kandar vorlegte, nicht eben einfach. Darum schob sie ihren Kopf etwas
vor und sprach direkt in das rechte Ohr des Wildpferdes:
"Lauf doch bitte langsamer. Wir sind schon beinahe am Erlenbach, und ich
möchte mich etwas genauer umsehen."
Kandar warf den Kopf ein wenig zurück und schnaubte zur Bestätigung. Nach
und nach verlangsamte er seinen Schritt. Aus gestrecktem Galopp wurde so nach kurzer
Zeit ein Traben und schließlich ein zügiges Schreiten.
Sasana hatte diesen Teil des Tales schon längere Zeit nicht mehr besucht. Darum
war sie sich unsicher darüber, ob die eine oder andere Veränderung, die sie
zu erkennen glaubte, durch das Beben entstanden war oder doch ganz andere Ursachen
hatte. Sie entdeckte einige mitsamt ihrer Wurzeln aus dem Erdboden gerissenen
Bäume am Waldrand und bat Kandar, sie näher zu ihnen zu bringen.
Nein, diese Bäume waren schon vor längerer Zeit umgestürzt – dort, wo
sie gestanden hatten, wuchsen schon wieder kleinere Pflanzen heran. Kandar war wohl
zu derselben Erkenntnis gekommen, denn er sagte:
"Es sieht so aus, als habe die schwere Last der dicken Schneedecke im letzten
Winter diese Bäume gefällt. Was meinst du?"
Sasana nickte. "Das ist gut möglich. Jedenfalls war es nicht das Beben von
heute."
Sie sprang vom Rücken des Wildpferdes und schaute sich nach allen Richtungen um.
"Überhaupt kommt es mir so vor, als gäbe es keinerlei Anzeichen
dafür, dass die Erde überhaupt gebebt hat."
"Vielleicht sind wir noch nicht nahe genug am Ort des Geschehens",
entgegnete Kandar. "Laß uns zum Erlenbach gehen und von dort aus die gesamte
Umgebung in Augenschein nehmen."
Und so schritten die beiden in Richtung des Baches aus. Sie sprachen während
ihres Weges kein Wort, sondern erforschten mit ihren Blicken sehr aufmerksam die
Gegend, um nur ja keinen möglichen Hinweis zu übersehen.
Und dann sah Sasana auf dem Zweig eines Strauches am Rande des Pfades einen
Erlenzeisig, der sich mit jemandem zu unterhalten schien. Beim Näher kommen
erkannte die Elfe dann auch, mit wem der Zeisig sein Gespräch führte.
Zwei Haselmäuse saßen unter dem Strauch und sicherten sich mit
nervösen Blicken und beständigem Schnuppern und Lauschen. Die beiden
schraken zunächst zusammen, als sie unter ihren empfindlichen kleinen
Füßen das leise Zittern des Bodens spürten, das Kandars Huftritte
verursachten.
Herr Haselmaus stellte seine Vorderfüße auf einen kleinen Stein und
richtete sich auf diese Weise auf, um besser sehen zu können, wer oder was da
auf ihn zukäme. Der Erlenzeisig hatte jedoch von seinem etwas erhöhten
Sitz aus die Elfe bereits erkannt und beruhigte die Haselmäuse.
"Keine Sorge, es ist die Elfe Sasana mit einem Begleiter."
Nun wich die nervöse Sorge der Mäuse und machte einer erleichterten, aber
auch angespannten Neugier Platz.
"Hallo, ihr drei!" rief Sasana schon, als sie noch einige Schritte entfernt
war. "Nach allem, was ich heute gehört habe, hatte ich nicht erwartet, hier
überhaupt noch jemanden anzutreffen. Warum habt ihr euch nicht, wie alle anderen
auch, auf den Weg zu einem sichereren Ort gemacht?"
"Mir ist dieser Ort sicher genug", zwitscherte der Erlenzeisig.
"Wo sollten wir denn auch hin?" fragte Frau Haselmaus. "Auf
längere Wege sind unsere kleinen Beine schließlich nicht
eingerichtet."
Und Herr Haselmaus ergänzte:
"Ich habe nicht tagelang die Vorratskammer vergrößert und gefüllt,
um so kurz vor dem Winter noch umzuziehen. So groß ist der Schaden nicht, den
das Beben angerichtet hat."
"Ihr seid ja ganz schön mutig", wieherte Kandar. "Alle anderen,
mit denen wir sprachen, hatten eine Todesangst."
"Sehr angenehm war es wirklich nicht", gestand Frau Haselmaus. "Und
wir wollten anfangs ebenfalls fliehen. Doch dann trafen wir den Erlenzeisig. Und was
er zu erzählen wußte, das hat uns wieder beruhigt."
Sasana sah den Erlenzeisig erstaunt an, der sich auf seinem Zweig ganz gelassen gab.
"Hmh...was hast du denn so Beruhigendes zu berichten?" fragte sie.
"Zuerst werde ich euch mal etwas zeigen. Wenn ihr das gesehen habt, wird es
euch leichter fallen, mich bei dem, was ich sagen werde, nicht für verrückt
zu halten. Folgt mir einfach ein kurzes Stück."
Er schwang sich in die Höhe und flog in Richtung des Erlenbaches davon.
Sasana sah zu Kandar hinüber, der jedoch auch nur mit den Schultern zucken konnte.
"Folgen wir ihm einfach", meinte er. "Schaden wird es nicht."
Und so verabschiedete sich Sasana mit kurzen Worten von Familie Haselmaus und schwebte
dem Erlenzeisig hinterher.
Der Zeisig war so umsichtig, nicht den direkten Weg zu seinem Ziel zu nehmen, sondern
einem schmalen Pfad zu folgen. In einem leichten Bogen ging es an dichtem
Gestrüpp vorbei den Hang hinunter zum Bach.
Als er das Bett des Erlenbachs erreichte, flog der Zeisig an dessen Ufer entlang ein
Stück zurück und ließ sich dann auf dem Zweig eines Strauchs nieder.
Sasana hat keine Mühe, ihm zu folgen, denn sie schwebte ja und mußte ihre
Füße nicht in den Schlamm des Bachufers setzen. Kandar beneidete die Elfe
etwas ums Schweben, als er durch den Morast stapfte.
Der Zeisig erwartete die beiden schon mit gespanntem Gesichtsausdruck. Er war sehr
neugierig darauf, ob seine beiden Begleiter wohl die Bedeutung dessen erkennen
würden, was sie sahen.
Als Sasana ihn erreichte, sah sie sich erst einmal um.
Da sie aber nicht recht wußte, wonach sie Ausschau halten sollte, fiel ihr nichts
Besonderes auf.
"Nun?" fragte sie. "Was ist denn hier so wichtig, dass wir es
unbedingt sehen mußten?"
"Sieh einmal zu der Erle hinüber", deutete der Vogel mit dem Schnabel
zu einem Baum, der in der Biegung des Baches hoch und gesund stand.
Der Bach hatte dort sein Bett im Laufe der Zeit etwas verbreitert und eine ziemliche
Ecke des Bodens ausgewaschen, so dass ein großer Teil der Wurzeln der Erle
nicht mehr vom Erdreich bedeckt war. Um die Wurzeln herum war der Boden sehr
schlammig und aufgewühlt. Doch in all dem konnte die Elfe beim besten Willen
keinen Zusammenhang zum Beben der Erde erkennen.
Sie blickte wieder zum Erlenzeisig und sagte:
"Also gut, nun mal raus mit der Sprache. Warum ist diese Erle so wichtig?"
Der Vogel schien es sehr zu genießen, dass er mehr wußte, als die Elfe.
"Was meinst du, wer wohl den Boden um die Erle herum zu Brei geschlagen hat?"
fragte er vergnügt.
Sasana zog die Augenbrauen zusammen und schwebte zur Erle hinüber, um einen
genaueren Blick zu tun.
Tatsächlich, es sah beinahe so aus, als habe jemand mit kräftigen
Schlägen riesiger Keulen oder Peitschen den Boden bearbeitet. Aber wer
vermochte solch großen Keulen zu schwingen? Und warum sollte jemand so
etwas tun?
Da sie keine Antworten auf diese Fragen wußte, kehrte sie zu dem Strauch
zurück, von dem aus der Erlenzeisig sie belustigt beobachtete.
"Es sieht tatsächlich danach aus, als habe da jemand seine Kraft
ausprobiert. Weißt du, wer es war?" fragte sie.
Der Vogel überlegte einen Moment und antwortete dann mit einer Gegenfrage:
"Hast du schon einmal Erlen tanzen sehen?"
Für die Zeichnung danke ich sehr herzlich Hanne H.
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