U n a s    U l m e n
 Die Elfe Sasana 
 Aufregung im Elfental 
 Sasanas Ferien 
Unas Ulmen
 Der Einzelgänger 
 Die Reise zum Großen Fest 
 Wenn Igel träumen ... 
 


Eine Elfengeschichte von kellergoethe. Die Rechte liegen beim Autor. Jegliche Veröffentlichung und Vervielfätigung bedarf der vorherigen Genehmigung.


Elfenzeichnung von Pia H. Sasana, die Elfe, saß auf ihrem Lieblingssitz, dem Ast der Silberlinde im Tal am Fuße des Berges Porot und erfreute sich an der Schönheit der ihr so vertrauten Umgebung. Die Sonne streichelte mit ihren Strahlen die Formen- und Farbenpracht der Pflanzen, und ein leichtes Lüftchen sorgte für Erfrischung und Bewegung.
Die Taube Gorama leistete der Elfe Gesellschaft. Sie erblickte den Fremden zuerst und machte Sasana mit beunruhigter Stimme auf ihn aufmerksam.
"Ein fremder Falke in unserem Tal - das bedeutet nichts Gutes," gurrte sie und wies mit dem Schnabel in Richtung des Berges Porot.
Und richtig: ein Falke flog zielstrebig auf die Silberlinde zu. Sasana erkannte ihn sofort.
"Keine Sorge," beschwichtigte sie die Taube. "Er ist friedlich. Una, meine Lehrerin, hat ihn, als er noch ein Junges war, völlig verwahrlost aufgefunden. Sie hat ihn gepflegt, aufgepäppelt und erzogen. Er weiß sich also zu benehmen."
Trotzdem war auch Sasana besorgt: "Gute Nachrichten bringt er aber sicher nicht."
Je näher der Falke kam, desto deutlicher wurde nämlich, dass ihn jeder Flügelschlag Überwindung kostete; er war der Erschöpfung nahe.
Nun hatte der Falke die Linde erreicht und ließ sich neben der Elfe nieder. Er atmete tief und schwer und stieß einen Seufzer aus. Dann begrüßte er artig die Elfe und die Taube.
Ohne den Gegengruß abzuwarten, sprach er weiter:
"Una bittet dich, so schnell wie nur möglich zu ihr zu kommen. Sie ist erkrankt und sagt, dass nur du ihr helfen kannst. Du mußt dich beeilen."
Sasana erschrak. Una mußte schon sehr krank sein, wenn der Falke so zur Eile trieb.
"Gut," sagte sie kurz entschlossen, "ich mache mich sofort auf den Weg."
Sie wollte diese Worte auch gleich in die Tat umsetzen, doch Gorama hielt sie zurück.
"Natürlich mußt du dich beeilen. Doch wenn du dich jetzt einfach Hals über Kopf auf den Weg machst, brauchst du mindestens drei Tage zu der Flußniederung, bei der Una lebt. Laß mich die Wildgänse fragen, die unten am Quellsee ihr Lager aufgeschlagen haben, ob sie dich hinfliegen können. Immerhin sind sie kräftige Zugvögel und gewohnt, lange Strecken ohne Aufenthalt zu überwinden. So sparst du sicher einen Tag. Während ich die Gänse hole, versorgst du den Falken, damit er sich von den Anstrengungen seiner Reise erholt."
Sasana sah ein, dass Gorama Recht hatte. Während die Taube sich also auf den Weg zum Quellsee machte, brachte die Elfe dem Falken Essen und Trinken und bat ihn, ihr mehr über Unas Krankheit zu berichten. Dies tat er dann auch:
"Wie du weißt, wachsen in der Flußaue viele Ulmen. Diese Bäume sind Unas ganzer Stolz. Daher wirst du dir auch vorstellen können, wie erschrocken Una war, als sie eines Morgens entdeckte, dass eine Ulme im Sterben lag. Nach und nach starben ihre Glieder ab, erst hier ein Zweig, dann noch ein Zweig, dann ein ganzer Ast. Una versuchte all ihre Künste, um die Ulme gesund zu machen. Sie braute Tees, rührte Salben an, versorgte den Baum mit frischem Wasser.
Doch es half alles nichts; der Baum starb weiter.
Und schlimmer noch: die benachbarten Ulmen hatten sich wohl angesteckt, denn nun begannen auch sie zu sterben. Una kämpfte Tag und Nacht gegen diese rätselhafte Krankheit.
Schließlich meinte sie, es gebe nur noch einen Weg, der vielleicht helfen könne. Sie wollte in einem der Bäume selbst den Grund für die Krankheit suchen.
Wir, ihre Freunde, rieten ihr eindringlich davon ab. Wir fürchteten, sie könne ebenfalls erkranken. Sie aber sagte, wenn sie den Ulmen nicht helfen könne, werde sie schon deshalb ganz krank.
Also ging sie zu der Flatterulme, die zuerst erkrankt war, umarmte den Baum, drückte sich fest an ihn, wurde ganz langsam eins mit ihm und verschwand schließlich völlig.
Es verging eine lange Zeit, in der wir uns große Sorgen machten. Als sie wieder aus dem Baum heraustrat, zeigte sich, wie berechtigt unsere Furcht gewesen war.
Sie fiel leichenblass zu Boden, konnte kaum noch atmen und hatte nicht die Kraft, aufzustehen.
Wir Tiere brachten sie mit vereinten Kräften unter einigen Mühen zu ihrer Laubhütte. Und dann bin ich losgeflogen, um dich zu holen."
Mit jedem Satz des Falken war Sasana immer unruhiger geworden. Una hatte sich in der todkranken Ulme also tatsächlich angesteckt.
Wenn das Wissen ihrer Lehrerin nicht ausgereicht hatte, den Ulmen zu helfen, wie sollte sie es dann schaffen? Sie konnte nur hoffen, dass Una in der Zeit, in der sie ein Teil der Flatterulme gewesen war, etwas herausgefunden hatte, was weiterhelfen konnte. Und sie hoffte, ihre Freundin würde auch noch in der Lage sein, ihr davon zu berichten. Eile tat not.
In diesem Augenblick kam Gorama zurück und brachte vier Wildgänse mit.
"Es kann losgehen," sagte sie. "Diese vier Freunde bringen dich zur Flußniederung."
"Wir helfen gern," ergänzte eine der Gänse. "Laßt uns einen Stock oder Ast suchen, der dir als Sitz dienen kann."
Schon nach kurzer Zeit hatten die Gänse einen geeigneten Ast gefunden, den der letzte Sturm abgebrochen hatte. Er war nicht zu schwer und doch fest genug, die Elfe zu tragen.
Zwei der Gänse nahmen ihn an seinen beiden Enden mit den Schnäbeln auf. Sasana setzte sich darauf und los gings.
Die Zugvögel erwiesen sich als sehr geübte und erfahrene Flieger. Sie nutzten geschickt jeden Aufwind, um an Höhe zu gewinnen. Auf diese Weise sparten sie viel Kraft. In weiten Kreisen stiegen sie über dem Elfental auf.
Wenn sie nicht wegen ihrer Freundin so beunruhigt gewesen wäre, hätte Sasana es sicherlich sehr genossen, ihr Tal aus dieser luftigen Höhe zu betrachten. So aber wünschte sie sich ungeduldig, ihre Begleiterinnen würden endlich die Höhe erreichen, die notwendig war, um den Berg Porot zu überwinden.
Als es soweit war und die Vögel den Kurs auf die hinter dem Berg liegende Welt nehmen konnten, warf Sasana noch einmal einen Blick über ihre Schulter auf ihr geliebtes Tal zurück. Friedlich lag es dort im hellen Sonnenschein.


Zeichnung von Hanne H. Die Gänse kamen gut voran. Ruhig und kraftvoll schwangen sie ihre Flügel im gleichen Takt. Die beiden, die nicht den Ast trugen, flogen als Windschutz voraus, um es den Trägerinnen etwas leichter zu machen.
Jede Stunde wechselten sich die Vögel mit dem Tragen ab. Dies geschah während des Fluges, um nur ja keine Zeit zu verlieren. Stunde um Stunde verging.
Sasana hatte keinen Blick für die Landschaft unter ihr, die sie schon viele Male auf ihrem Weg zu ihrer Freundin durchwandert hatte. Ihre Gedanken drehten sich nur darum, was Una zugestoßen war und wie sie ihr wohl helfen konnte. Sorgenvoll hoffte sie, noch rechtzeitig in der Aue einzutreffen.
Die Nacht brach herein. Die Gänse flogen dennoch ruhig und stetig weiter. Sie versicherten Sasana, Mond und Sterne gäben ihnen genug Licht, um den Weg zu finden.
Als der Morgen graute und die Welt unter ihr wieder zu Leben erwachte, erkannte die Elfe, welch´ große Strecke ihre Trägerinnen schon zurückgelegt hatten. Mit etwas Glück würden sie die Flußniederung schon am Nachmittag erreichen.
Je näher sie dem Ziel kamen, desto unruhiger wurde Sasana. Endlich sah sie am Horizont den Fluß, der sich in großen Schleifen durch das Land schlängelte. Zuerst schien er nur ein dünner grauer Streifen in der Ferne zu sein. Mit jedem Flügelschlag nahmen er und seine nähere Umgebung aber mehr und mehr Gestalt an.
Die Gänse verließen die bisherige Flughöhe und näherten sich Meter um Meter dem Boden. Bäume, die vorher wie Grashalme ausgesehen hatten, schienen wieder zu ihrer ursprünglichen Größe zu wachsen. Schon bald sah Sasana die Ansammlung von Ulmen, die bei Unas Laubhütte wuchs.
Sie erschrak sehr. Nicht eine der Ulmen war von der Krankheit verschont geblieben. Jede einzelne von ihnen erweckte den Eindruck, als käme jede Hilfe zu spät.
Vor Unas Hütte lagerten viele Tiere, die nun, da sie die Gänse mit ihrer Fracht herankommen sahen, aufgeregt hin und her liefen.
Ein Dachs versuchte Ordnung in das Durcheinander zu bringen.
"Macht Platz!" rief er. "So bleibt doch endlich stehen. Wie sollen die Gänse denn landen, wenn ihr nicht einen Meter Raum dafür laßt? Bildet einen Halbkreis und bleibt endlich stehen!"
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, verteilte er mit seinem harten Schädel Knüffe in alle Richtungen. So schaffte er es tatsächlich, dass etwas mehr Ruhe einkehrte und die übrigen Tiere seinen Anweisungen folgten.
Nun konnten die Gänse endlich landen. Ihre Füße hatten den Boden noch nicht berührt, da sprang Sasana schon von ihrem Sitz herunter, schwebte eilends auf die Laubhütte zu und war hast-du-nicht-gesehen darin verschwunden.
Una lag auf ihrem Lager aus Blättern und Gräsern und atmete so schwer, als läge ihr ein dicker Felsbrocken auf der Brust. Aus einem schneeweißen Gesicht glühten Sasana zwei kirschrote Augen fiebrig an.
Sasana nahm ein Tuch, das in der Nähe lag und trocknete damit Gesicht und Stirn ihrer Freundin. Dann streichelte sie ihre Wangen und griff nach Unas Hand. Beruhigend sprach sie auf ihre einstige Lehrerin ein.
"Ich bin ja jetzt da. Alles wird gut. Wir werden das schon gemeinsam überstehen."
Unas Lippen bewegten sich. Doch Sasana mußte ganz nahe mit ihrem Ohr an den Mund ihrer Freundin heran, um zu verstehen, was diese flüsterte.


Zeichnung von Hanne H.Die Tiere, die in der Flußaue wohnten, warteten beklommen und schweigend darauf, dass Sasana wieder erscheinen würde, um ihnen zu sagen, wie Una geholfen werden könnte.
Doch es dauerte recht lange, bis die Elfe aus der Laubhütte heraustrat. Es war jetzt sehr still. Keine Grille zirpte. Manche Tiere wagten nicht einmal, zu atmen.
Sasana sah sehr besorgt aus. Sie blickte in die Runde und begann dann zu reden:
"Ich brauche dringend einige Pflanzen, um eine Medizin für Una und die Bäume zu bereiten. Hoffentlich kennt jemand von euch diese Pflanzen und weiß, wo sie wachsen."
Sie machte eine kurze Pause. Dann fuhr sie fort:
"Also: zunächst einmal brauche ich Lungenkraut. Es wächst im Halbschatten der Laubwälder und wird etwa zwei Handbreit groß. Seine Blüten wechseln im Laufe des Jahres ihre Farbe; sie sind erst rot und werden später blau."
Aufgeregt meldete sich ein Kaninchen: "Ich weiß es, ich weiß es. Ganz in der Nähe meines Baus wächst eine Pflanze, die so aussieht, wie du sie eben beschrieben hast."
"Gut," antwortete Sasana, "dann führst du einige andere Tiere hin, und ihr bringt mit, was immer ihr tragen könnt."
Schon machte sich ein kleiner Trupp angeführt von dem Kaninchen auf den Weg.
Sasana sah sich unter den verbliebenen Tieren um und entdeckte eine Familie von Wildenten. Sie trat an diese heran und sprach:
"Habt ihr in dieser Gegend vielleicht Fieberklee gesehen? Das ist eine Pflanze, die in seichtem Wasser wächst. Ihre Blüten sind weiß, manchmal aber auch rosa. Der Blütenstengel selbst hat keine Blätter; diese sitzen meist an eigenen Stengeln, immer drei Blätter zusammen."
Und sie hatte Glück: eine Ente glaubte, solche Pflanzen bei einer Flußwindung gar nicht weit von der Laubhütte entfernt gesehen zu haben.
Sasana mußte gar nicht erst darum bitten. Sofort setzte sich eine zweite Gruppe von Tieren in Bewegung, um Fieberklee einzusammeln.
Während also ein großer Teil der Tiere die Suche nach den Pflanzen für die Medizin aufnahm, begab Sasana sich zu den kranken Bäumen.
Aus der Nähe erkannte sie erst, wie krank die Ulmen wirklich waren. Viel Zeit hatte sie nicht mehr, wenn sie die Bäume retten wollte.
Ein Baum nach dem anderen wurde von oben bis unten gemustert.
Als die Elfe vor einer mächtigen, beinahe 30 Meter hohen Flatterulme stand, bei der die Krankheit besonders weit fortgeschritten schien, sprach der Dachs sie an:
"Dies ist der Baum, in dem Una sich angesteckt hat."
Sasana nickte mit dem Kopf: "Das dachte ich mir schon."
Nachdem sie den Baum selbst sehr genau untersucht hatte, ließ sie ihren Blick in dessen nähere Umgebung schweifen. Ein kleines Gesträuch, das nur etwa fünf Schritte von der Ulme entfernt stand, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie trat näher und schob die Sträucher mit den Händen auseinander.
Nach einigem Suchen entdeckte sie ein bis dahin durch die Zweige der Gewächse vor neugierigen Blicken verstecktes Erdloch. Es war gar nicht groß, schien aber sehr tief in den Boden hineinzuführen.
"Aha," murmelte die Elfe, "da haben wirs ja schon. Dem Himmel sei Dank."
Mit schnellen Schritten kehrte sie zu Unas Laubhütte zurück und nahm einen Holzeimer auf. Dann rief sie einen Rehbock, der unter den noch versammelten Tieren stand, zu sich und bat ihn, mit diesem Eimer aus dem nahen Fluß Wasser zu holen. Der Rehbock nahm den Henkel des Eimers ins Maul und lief los.
Sasana sah die übrigen Tiere an und schien kurz zu überlegen. Schließlich trat sie auf eine Rotte Wildschweine zu.
"Würdet ihr mir bitte helfen?"
Ohne zu zögern fragte die Leitbache: "Was sollen wir tun?"
Sasana bat sie, ihr zu folgen. So führte die Elfe die Wildschweinrotte also zu dem kleinen Gesträuch in der Nähe der mächtigen Flatterulme. Dort stellte sie die Schweine in einem Kreis um das Gebüsch herum auf.
"Ich möchte, dass ihr sehr genau aufpaßt. Laßt bitte niemanden entkommen, der aus diesem Gesträuch herauskommt. Es ist sehr wichtig."
Die Wildschweine nickten entschlossen.
Mittlerweile war der Rehbock mit dem gefüllten Holzeimer zurück. Sasana nahm den Eimer und bedankte sich. Sie trug das Wasser zu dem Erdloch und goß es hinein. Dann reichte sie dem Rehbock wieder das Gefäß und bat ihn, noch eine Füllung zu holen. Dieser machte sich auch sofort auf den Weg. Gespannt wartete die Elfe darauf, ob der erste Wasserguß schon etwas bewirkt hatte. Doch nichts geschah.
Sie mußte noch zweimal den Eimer in das Erdloch entleeren, bevor sich etwas tat.
Nach dem dritten Guß ertönte aus dem Loch ein Geschrei:
" Was soll das? Wer will mich da ersäufen?"
Die meisten Tiere erschraken, und die Wildschweine nahmen eine gespannte Angriffshaltung ein.
"Nein, nein," beschwichtigte Sasana sie leise, "ihr paßt nur auf, dass er nicht entwischt."
Bevor noch jemand fragen konnte, wer denn nicht entwischen dürfe, sprang auch schon ein schmutziges kleines Kerlchen mit strubbeligem braunen Haarschopf und Bart aus dem Erdloch. Seine abgerissene und völlig mit Erde und Lehm beklebte Kleidung war tropfnaß, und er schimpfte wie ein Rohrspatz.
"Nun halt aber mal die Luft an," herrschte Sasana ihn an. "Erkläre mir lieber, warum du die Ulmen krank machst."
Der Kleine war tatsächlich einige Sekunden still. Verblüffung breitete sich in seinem schmutz-verschmierten Gesicht aus.
"Ich? Ich soll die Ulmen krank machen?" Völlig entgeistert blickte er Sasana an, als sei diese nicht ganz bei Trost. "Solch einen Unsinn habe ich noch nicht gehört. In meinem ganzen Leben noch nicht. Wofür hältst du mich eigentlich? Ich bin ein Wurzeltroll und kein Bazillus."
"Was du bist oder nicht bist, das bleibt sich gleich," beschied Sasana ihn. "Ich weiß nur, dass jede Ulme, zu deren Wurzeln du dich durchgegraben hast, krank geworden ist. Und das kann kein Zufall sein. Also, was machst du da unten mit den Wurzeln?"
"Machen? Machen? Was soll ich schon machen? Ich bin ein Wurzeltroll. Wie oft soll ich das denn noch sagen. Ich ernähre mich von Wurzeln oder besser gesagt: von den Spitzen der Wurzeln. Und das schon seit Jahren. Davon ist noch kein Baum krank geworden, denn die Spitzen wachsen nach. Ich achte sehr darauf, nie zuviel wegzubeißen. Immerhin muß ich noch einige Jährchen länger etwas zu essen haben. Verschone mich also mit deinen lächerlichen Vorwürfen. Sieh dir lieber an, was du mit deinem dummen Wasser angerichtet hast."
Bei diesen Worten drückte er die Feuchtigkeit aus einem Zipfel seines Hemdchens, dass es nur so tropfte.
Sasana mußte unwillkürlich lachen, so drollig sah der wütende kleine Troll aus.
Dann aber wurde sie nachdenklich. Was das Kerlchen gesagt hatte, ergab einen Sinn. Sie konnte sich wirklich nicht vorstellen, dass er den Ulmen Schaden zufügen wollte. Immerhin lebte er davon, dass die Bäume lebten. Warum sollte er sie also krank machen?
Und doch mußte die rätselhafte Krankheit mit ihm zu tun haben. Überall, wo seine Gänge zu den Wurzeln führten, waren die Ulmen erkrankt.
Während die Elfe noch nach Antworten auf ihre eigenen Fragen suchte, hüpfte der Wurzeltroll im Kreis der Wildschweine herum, die ihn nicht gehen lassen wollten.
Er tobte. "Haare naß, Hemd naß, Hose naß, und das nur wegen dir," schrie er Sasana an. Um seine Worte zu unterstreichen, versprühte er durch heftiges Kopfschütteln Wassertropen und klatschte mit seinen Händen auf Hemd und Hose.
"Ist ja schon gut," sagte Sasana etwas verärgert, weil der Troll ihre Gedanken störte. "Nun stelle dich wegen der paar Tropfen nicht so an."
"Wegen der paar Tropfen?" schrie der Kleine. "Ha! Ersäufen hättest du mich können." Er stampfte wild mit den Füßen auf den Boden und sprang wie ein Grashüpfer herum.
Die Elfe wollte sich gerade umdrehen, um zu Unas Laubhütte zurückzukehren, als dem Troll bei seinem wütenden Tanz etwas aus der Hosentasche fiel, das im Sonnenlicht des späten Nachmittags glänzte.
Sasana trat näher und sah, dass es sich um einen faustgroßen silbergrauen Stein handelte. Eine seiner Flächen war spiegelglatt, während die anderen Seiten aussahen, als seien sie aus einem größeren Brocken herausgebrochen worden.
Die Elfe hatte das Gefühl, schon einmal etwas ähnliches gesehen zu haben. Aber so sehr sie auch nachdachte, sie konnte sich nicht mehr daran erinnern.
"Gib das her," fuhr der Wurzeltroll sie an. "Das gehört mir. Nicht genug damit, dass du mich eingeweicht und beinahe umgebracht hast, nun willst du mich auch noch bestehlen. Ich bin hier unter Räuber und Mörder geraten," schimpfte er.
"Nun sei aber still," ermahnte ihn die Elfe. "Sag mir lieber, wo du diesen Stein her hast."
Doch der Kleine wollte sich noch nicht beruhigen. Er beschimpfte sie und fluchte weiter, dass es schon nicht mehr lustig war. Sasana ließ ihn noch etwas gewähren, wies ihn dann aber doch streng zur Ruhe.
"Wo hast du den Stein her?" fragte sie sehr bestimmt und jedes Wort betonend.
"Woher soll ich ihn schon haben? Gefunden habe ich ihn."
"Gut, gut - aber wo?" fragte Sasana, die nun langsam doch die Geduld verlor. "Nun sag schon!"
Der Troll steckte seine Hände ganz tief in die Hosentaschen und blickte beleidigt zu Boden.
Der Leitbache der Wildschweinrotte wurde es nun zu dumm. Sie grunzte böse und bewegte sich zwei Schritt auf das Kerlchen zu. Dieses erschrak und sprang sofort an Sasanas Seite, weil es sich dort vor dem Wildschwein sicher glaubte.
"Ich sags ja, ich sags ja," jammerte der Troll.
"Na, dann los," forderte Sasana ihn auf.
Nun berichtete der Wurzeltroll.
Viele Tage bevor er zu Unas Flußniederung gekommen war, hatte er ein hohes Gebirge durchwandert, in dem es kaum einen Baum oder Strauch gab. Mitten in diesem Gebirge sei er auf einen riesigen Felsblock gestoßen, dessen Flächen völlig glatt waren und silbern im Sonnenlicht glänzten. Das Gestein habe so verlockend gefunkelt, dass er nicht widerstehen konnte. Er habe zwei große Steine wie Hammer und Meißel benutzt und damit diesen Splitter herausgebrochen.
Das sei ein ganz schönes Stück Arbeit gewesen und habe sehr viel Kraft gekostet.
"Und das, obwohl ich schon seit Tagen nichts mehr gegessen hatte, weil es in diesem Gebirge nichts, aber auch überhaupt nichts Eßbares gegeben hat," schloß er seine Erzählung.
Sasana war während seines Berichts in Regungslosigkeit erstarrt und sehr blaß geworden. Nun wollte sie es aber noch genauer von dem Troll wissen, nur um ganz sicher zu sein:
"Stand auf diesem Felsblock, wie du ihn nennst, ein aus dicken Steinen gemauerter Turm?" fragte sie.
"Wenn du ohnehin schon weißt, dass dieser Turm da steht, wieso fragst du dann überhaupt?"
Sasana kümmerte sich aber schon nicht mehr um das, was er sagte. "Paßt auf, dass er nicht wegläuft," bat sie die Wildschweine.
"Keine Sorge, er wird sein blaues Wunder erleben, wenn er es auch nur versucht," entgegnete die Leitbache.
Die Elfe sah sich unter den Vögeln um, die auf den Ästen und Zweigen der umstehenden Bäume die ganze Szene aufmerksam verfolgt hatten.
Als sie den großen Bußard entdeckte, lief sie auf ihn zu und fragte ihn:
"Kennst du den Vulkan Bodin? Weißt du, wo er ist?"
"Natürlich," erwiderte der Vogel und blickte sie erwartungsvoll an.
"Dann nimm dies bitte und trage es zu dem Vulkan," sagte Sasana und legte dem Bussard den silbergrauen Stein vor die Füße.
"Wenn du ankommst, fliege bitte über den Krater des Vulkans hinweg und wirf den Stein hinein. Sieh aber zu, dass er auch wirklich tief hineinfällt und nicht etwa oben am Rand liegenbleibt. Sei vorsichtig und fliege hoch genug über dem Krater hinweg, damit dir nichts passiert."
"Schon gut," meinte der Vogel. "Ich werde alles genauso tun, wie du es mir aufgetragen hast."
Doch er zögert noch. "Hat dieser Stein die Ulmen und Una krank gemacht?" wollte er wissen.
"Ja," entgegnete Sasana, "doch sorge dich deswegen nicht. Seine böse Kraft greift nur Bäume an. Du siehst, dass es dem Troll recht gut geht, obwohl er den Stein lange in der Tasche getragen hat. Una ist nur deshalb krank, weil sie in die Ulme gegangen und mit ihr eins geworden ist."
"Verstehe," stellte der Bussard fest. Dann nahm er den Stein mit seinem Schnabel auf, schwang sich in die Luft und trug ihn fort.
Der Troll protestierte heftig, als er sah, wie sein so mühsam erworbenes Eigentum entführt wurde.
"Ist es jetzt endlich genug? Habt ihr mich jetzt genug geärgert? Darf ich jetzt - halb ersäuft und ganz ausgeraubt - freundlicherweise wieder zu meiner Mahlzeit zurückkehren?"
Ohne auf eine Antwort zu warten, wollte er sich in das Erdloch zurückziehen.
Doch Sasana bedeutete den Wildschweinen mit einer Handbewegung, ihn nicht verschwinden zu lassen.
"Unterstehe dich nicht," sagte sie in scharfem Ton. "Zuerst wirst du gründlich gereinigt. Der Stein hat zu lange in deiner Tasche gelegen, als dass ich dich so wieder an die Wurzeln lassen könnte."
Trotz aller Proteste wurde der Wurzeltroll von den Wildschweinen zum Fluß bugsiert, wo ihn schon vier Fischotter in Empfang nahmen, um ihn einige Male kräftig unter Wasser zu drücken.
Ob er wollte oder nicht, er mußte wohl oder übel ein gründliches Bad über sich ergehen lassen, so sehr er sich auch sträubte. Prustend und strampelnd versuchte er, sich zu wehren. Doch es half alles nichts.
Als er pudelnaß wieder vor Sasana stand, blitzte er sie aus seinen Augen böse an.
"Darf ich jetzt endlich gehen?" wollte er wissen.
"Aber ja," antwortete Sasana. "Es tut mir sehr leid, dass wir dich so behandeln mußten. Du hattest nun einmal den krankmachenden Stein bei dir. Wenn du dich erst einmal beruhigt und über alles noch einmal nachgedacht hast, siehst du ja vielleicht ein, dass es nicht anders ging. Stelle dir einmal vor, du wärst noch lange mit dem Stein herumgezogen und hättest damit alle Bäume getötet, die du doch brauchst, um selbst leben zu können."
"Man hätte trotzdem mindestens versuchen können, mit mir darüber zu reden," erwiderte der Troll. "Wahrscheinlich hätte ich es ja eingesehen."
Die Elfe dachte einen Augenblick nach und sagte dann:
"Du hast recht, ich war nicht gerade sehr freundlich zu dir. Vielleicht kann ich es bei anderer Gelegenheit wieder gutmachen."
Der Troll wollte nun aber nicht länger bleiben, sondern seiner Wege ziehen. Und die führten ihn nicht wieder an die Ulmen zurück, denn von dieser Gegend hatte er erst einmal die Nase voll.


Zeichnung von Hanne H.Als Sasana und die Tiere wieder zur Laubhütte zurückkamen, waren die Fieberklee-Sammler schon dort. Sie hatten tatsächlich große Mengen der Pflanze gefunden und mitgebracht.
Sasana machte sich sofort an die Arbeit und begann damit, Medizin herzustellen.
Schließlich traf auch die andere Gruppe mit dem Lungenkraut ein.
Nun waren alle Tiere damit beschäftigt, nach Sasanas Anweisungen Tee zu brauen und Salbe anzurühren, Wasser vom Fluß zu holen, die Medizin zu den Bäumen zu bringen und diese damit zu versorgen.
Sasana selbst pflegte ihre Freundin Una.
Alle arbeiteten die ganze Nacht durch und kümmerten sich noch einige Tage rührend um Una und die Ulmen. Fieberklee und Lungenkraut taten nun, da der todbringende Stein nicht mehr in der Nähe war, zusehends ihre Wirkung.
Dann kehrte der Bussard heim. Er berichtete, dass er den Stein, wie ihm geheißen, in die glühende Lava des Vulkankraters hatte fallen lassen. Sasana sah sehr zufrieden drein und lobte den Vogel für seine ausgezeichnete Hilfe.
"Welche Bewandtnis hat es denn nun eigentlich mit dem Stein?" wollte der Vogel wissen.
Nun fiel auch allen anderen auf, dass sie wegen all der Arbeit in den vergangenen Tagen noch nicht die Gelegenheit hatten, diese Frage zu stellen. So kam Sasana also nicht um eine Erklärung herum.
"Auf dem Berg, aus dem der Wurzeltroll den Stein herausgebrochen hat, wohnt Togur, ein Zauberer. Er ist eigentlich ein recht netter Kerl. Doch er ist auch etwas seltsam. Er mag keine Bäume und er hat durch einen Zauberspruch dafür gesorgt, dass auf seinem Berg keine Bäume wachsen können. Dies ist auch der Grund, warum der Troll in der Umgebung des Berges nichts zu essen fand. Mit dem Stein trug der Troll auch Togurs Fluch zu den Ulmen. Daher rührte alles Unheil."
"Ja," ergänzte Una, die schon beinahe wieder völlig genesen war. "Ich vermutete, dass der Troll mit der Krankheit der Bäume zu tun haben mußte. Als ich mich in die Flatterulme versenkte, bemerkte ich ihn am Ende der Wurzeln. Doch der Stein hatte auch auf mich seine krankmachende Wirkung. Wäre Sasana nicht so schnell gekommen und so pfiffig gewesen, hätte es noch viel schlimmer kommen können."
Sasana ergriff wieder das Wort:
"Als ich ankam, war Una schon so schwach, dass ich kaum verstehen konnte, was sie mir zu sagen versuchte. Ich habe nur das Wort ´Troll` verstanden und daraus meine Schlüsse gezogen."

Sasana und Una hatten sich natürlich noch viel zu erzählen, da sie sich so häufig ja auch nicht trafen.
Doch nach einigen weiteren Tagen wollte Sasana wieder zurück zu ihrem Tal, um dort nach dem Rechten zu sehen.
Nachdem sie sich von allen verabschiedet hatte, verließ sie die Flußniederung wieder. Die Gänse hatte sie vorausgeschickt, um ihre Freunde daheim davon zu unterrichten, dass sie sich keine Sorgen mehr machen mußten.
Nach drei Reisetagen erreichte sie ihre Silberlinde und ließ sich auf ihrem Lieblingssitz nieder.
Sie atmete tief durch. Ihr Blick streifte durch die Umgebung. Die Flußniederung, in der Una wohnte, war sehr schön. Doch hier in ihrem Tal am Fuße des Berges Porot fühlte sie sich noch viel wohler.


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