Die Reise zum Großen Fest
 Die Elfe Sasana 
 Aufregung im Elfental 
 Sasanas Ferien 
 Unas Ulmen 
 Der Einzelgänger 
Die Reise zum Großen Fest
 Wenn Igel träumen ... 
 


Eine Elfengeschichte von kellergoethe. Die Rechte liegen beim Autor. Jegliche Veröffentlichung und Vervielfätigung bedarf der vorherigen Genehmigung.


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Teil 7

Elfenzeichnung von Pia H. Den Festplatz zu finden, war nicht sehr schwierig. Er lag mitten in dem Wald und war die einzige große Lichtung, die weit und breit zwischen all den Bäumen zu entdecken war. Schon von Ferne konnten die Reisenden erkennen, dass bereits sehr viele Elfen dort eingetroffen waren und ihre Lager unter den Bäumen aufgeschlagen hatten.
Als sich die beiden Vögel dem Boden näherten, erkannte Sasana ihre Freundin und Lehrerin Una, die in einer kleinen Gruppe anderer Elfen stand und sich angeregt unterhielt. Aufgeregt deutete sie Stolzbrust mit ausgestrecktem Arm die Richtung, und er folgte diesem Hinweis.
Die versammelten Elfen hatten nun bemerkt, welche ungewöhnlichen Reisenden da auf sie zukamen und blickten ihnen mit offenen Mündern und großen Augen entgegen.
Sasana konnte es schon beinahe nicht mehr abwarten, dass ihre Füße den Boden berühren würden. Am liebsten wäre sie schon lange vorher von dem Rücken des Adlers gesprungen und direkt zu Una geschwebt. Doch sie besann sich eines anderen, weil sie Stolzbrust nicht erschrecken wollte. Die Elfe geduldete sich - wenn auch sehr zappelig.
Una hatte natürlich ihre Freundin auch erkannt und lief schon der Stelle entgegen, in deren Nähe sie die Landung der Vögel vermutete. Kaum hatte Stolzbrust auf dem Boden aufgesetzt, sprang Sasana auch schon von ihm herunter, fiel ihrer Freundin Una in die Arme und begann zu weinen.
"Gut, dass du schon da bist", schluchzte sie. "Ich habe mir so gewünscht, dich schon anzutreffen und hatte solche Angst, dass du noch unterwegs sein würdest."
"Ich bin ja hier", beruhigte ihre Freundin sie. "Aber was ist denn los, dass du so aufgeregt hier ankommst - noch dazu in so ungewöhnlicher Gesellschaft." Dabei blickte sie auf die beiden großen Raubvögel, die nur wenig entfernt auf dem Boden saßen.
"Wie wär’s, wenn ich mir jetzt endlich ein Maul voll Gras nehmen könnte?" fragte Stolzbrust und schaute Barantas an. Dieser trat verlegen von einem Bein auf das andere und sagte: "Oh, tut mir leid. Bei diesem Zusammentreffen habe ich ganz vergessen, dich wieder in einen Hirsch zu verwandeln." Doch dann schlug er kurz mit seinen Flügeln aus, und schon ging mit Stolzbrust wieder die Verwandlung von einem Adler in einen Hirschen vor sich - sehr zum noch größeren Erstaunen der versammelten Elfen.
Als Stolzbrust wieder in voller Größe auf vier Beinen stand, atmete er tief durch. "Das wurde aber auch Zeit. Noch länger hätte ich es ohne etwas zu fressen nicht ausgehalten. Fliegen hin oder her, ich bin doch lieber ein Hirsch."
Und ohne noch lange zu warten, begab er sich zu einer Stelle am Rande der Lichtung, die seine Adleraugen schon ein gutes Weilchen vor der Landung als für eine saftige Mahlzeit bestens geeignetes Fleckchen ausgemacht hatten.
"War das etwa Stolzbrust?" fragte Una beinahe entgeistert. Sasana konnte nur nicken. Sie hielt ihre Freundin noch immer fest umschlungen. Dann löste sie sich aus der Umarmung und fragte ganz aufgeregt: "Ist Sesin in der Nähe? Ich muß unbedingt sofort Sesin sprechen." Suchend blickte sie sich um.
"Ich bin hier, meine Liebe", ertönte die vertraute freundliche Stimme aus der näheren Umgebung. Und sofort öffnete sich im Kreis der Umstehenden eine Gasse, durch die die Wächterin des Farbenwaldes auf die beiden Freundinnen zutrat.
"Kommt, ihr beiden, laßt uns zu meiner Hütte gehen und dort in aller Ruhe bereden, welche Sorgen unsere Freundin Sasana drücken."
Sesin wartete keine Antwort ab und schritt zügig voran. Sie wußte sehr genau, dass Una und Sasana ihr folgen würden. Immerhin war sie die Wächterin des Farbenwaldes und Mitglied des Großen Elfenrats. Alle anderen Elfen blieben auf dem Festplatz zurück, tuschelten miteinander und sahen zu Stolzbrust hinüber, der gemächlich und mit großem Appetit seiner Mahlzeit nachkam. Barantas, noch immer in der Gestalt des Habichts, bewegte sich ganz langsam und sich von Zeit zu Zeit mit Blicken nach allen Seiten absichernd auf den Hirsch zu, um in dessen Nähe zu verharren und zu warten.
Währenddessen berichtete Sasana in Sesins Hütte von den Ereignissen der vergangenen Tage. Una lauschte staunend und bis in die letzte Faser ihres Körpers gespannt. Sesin hingegen schien beinahe zu schlafen. Sie hatte die Augen bis auf einen kleinen Schlitz geschlossen und bewegte sich die ganze Zeit überhaupt nicht. Sasana schloß ihren Bericht mit einer dringenden Bitte: "Ihr müßt mir helfen, Gorama wiederzufinden. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ihr etwas Schlimmes zugestoßen wäre, nur weil sie mir helfen wollte. Bitte, helft mir."
"Aber sicher werden wir das tun", erklärte Una sofort und erhob sich von ihrem Platz, um ihre Freundin wieder in den Arm zu nehmen. "Das ist doch selbstverständlich. Nicht wahr?" Und bei diesen letzten Worten sah sie zu Sesin hinüber, die noch immer regungslos verharrte.
Auch Sasana sah erwartungsvoll zur Wächterin. In diese kam nun Bewegung. Sie öffnete ihre Augen wieder und erhob sich. Nachdenklich blickte sie durch eine Fensteröffnung in Richtung des Festplatzes. Dann sah sie Sasana an.
"Eines nach dem anderen. Wir werden sehen. Kommt mit."
Wieder wartete sie keine Antwort ab, sondern verließ die Hütte und strebte dem Festplatz zu. Verdutzt folgten ihr die beiden Elfenfreundinnen, die eigentlich eine völlig andere Reaktion erwartet hatten und nicht so recht verstanden, was vor sich ging. Sasana war sehr besorgt über Sesins Verhalten und befürchtete, dass ihr die erwartete Hilfe nicht zuteil würde. Was sollte sie nur tun? Nur gut, dass wenigstens Una bereit war, zu helfen.

Zeichnung von Hanne H.

Auf dem Festplatz angekommen, hielt Sesin nicht etwa inne. Sie ging vielmehr zu der Stelle, an der Stolzbrust sich noch immer den Bauch mit wohlschmeckenden Gräsern und Kräutern vollschlug und Barantas mit wachsamem Auge die Umgebung beobachtete. Als er Sesin zielstrebig auf sich zukommen sah, schien er sich zu ducken und kleiner zu werden.
Sesin blieb stehen. Ihr Auge ruhte unentwegt auf dem Habicht, der unruhig von einem Bein auf das andere trat und sie beobachtete. Schließlich sprach Sesin, nicht sehr laut, doch sehr bestimmt.
"Du weißt, dass ich die Wächterin des Farbenwaldes bin. Und du weißt auch, dass ich weiß, wer du bist. Dennoch bist du nicht nur hierher gekommen, sondern auch geblieben, bis ich zu dir zurückkehrte. Erkläre mir, warum du so unbedacht handelst."
In diesem Augenblick hätte man noch eine Grille, die sich am anderen Ende des Farbenwaldes befand, zirpen hören können, so still waren alle Anwesenden. Sie erkannten ihre gute, liebe, freundliche, fröhliche Sesin nicht wieder. Außerdem verstand niemand so recht, worum es eigentlich ging.
Bis auf den Habicht.
Er legte einen Augenblick seinen Kopf auf die Seite und schien nachzudenken. Dann richtete er sich wieder zu voller Größe auf und antwortete:
"Es steht mir nicht zu, dir zu widersprechen. Ich hoffe daher, du siehst es mir nach, dass ich dir in einem Punkt nicht zustimmen kann. Ich habe mit sehr viel Bedacht gehandelt."
Er legte eine Pause ein, um zu sehen, wie seine Worte wirkten. Sesin wußte dies natürlich auch. Sie gab ihm jedoch nicht die Möglichkeit, weiter zu sprechen.
"Meinst du nicht, es wäre höflicher, zu mir in deiner wahren Gestalt zu reden?"
Der Habicht stutzte einen Augenblick und sah an sich hinunter.
"Oh, entschuldige, ich habe überhaupt nicht daran gedacht, dass ich hier noch als Vogel herumstehe."
Er schlug kurz mit den Flügeln und richtete sich wieder zu voller Elfengröße auf - sehr verlegen.
Sesin nickte befriedigt und sprach dann weiter:
"Und meinst du nicht auch, es wäre richtiger gewesen, mich vorher um Erlaubnis zu fragen, ob du dich hier niederlassen darfst?"
"Das hatte ich auch vor", rechtfertigte sich Barantas, "doch es ging alles so schnell vor sich, dass ich überhaupt nicht dazu kam."
"Und warum fragst du mich jetzt noch immer nicht?" beharrte Sesin auf ihrem Standpunkt.
Barantas dachte einen Moment verdutzt nach. "Ich muß mich schon wieder bei dir entschuldigen, Wächterin. Du hast natürlich recht. Ich bitte um die Erlaubnis, mich hier im Farbenwald aufzuhalten und die Bitte, die mich hierher führt, vorzutragen."
Sesin nickte wieder befriedigt mit dem Kopf.
"Ich nehme deine Entschuldigungen an und gestatte dir, im Farbenwald zu bleiben, bis entschieden wurde, was weiter werden soll. Ich tue dies nur, weil du meiner Freundin Sasana und dem Hirschen Stolzbrust geholfen hast. Und auch nur unter der Voraussetzung, dass du dich dem Spruch des Großen Elfenrates fügst. Bist du bereit dazu?"
Barantas blickte für kurze Zeit zu Boden, hob dann wieder seinen Kopf und sagte:
"Da ich nicht meinetwegen hierher gekommen bin, werde ich nicht meinem Stolz folgen, sondern deine Bedingungen annehmen und mich nach ihnen richten."
Sesin zog ihre Augenbrauen kurz in die Höhe, so als hätte sie eine solche Antwort nicht erwartet. Ihr Blick lag forschend auf dem Gesicht ihres Gegenübers.
"So hättest du vor hundert Jahren noch nicht gesprochen. Es scheint, du hast dich geändert - zumindest etwas."
Dann wandte sie sich den umstehenden Lauschern zu. "Würdet ihr euch bitte wieder den Vorbereitungen für unser Fest widmen? In so großer Runde lassen sich schwierige Fragen nur sehr schwer besprechen. Und außerdem bin ich - so wie ich mich und euch kenne - sicher, dass ihr im Laufe unseres Festes noch jede Einzelheit hören werdet, die ihr jetzt vielleicht verpaßt." Bei ihren letzten Worten lächelte Sesin verschmitzt.
Nun kam in die anwesenden Elfen und Tiere, die bisher der Szene aufmerksam und stillstehend gefolgt waren, wieder Bewegung. In kleinen Gruppen miteinander redend und tuschelnd löste sich die große Versammlung innerhalb kürzester Zeit auf, um wieder ihren Beschäftigungen von vor Sasanas Ankunft nachzugehen. Nur Sesin, Sasana, Una, Stolzbrust und Barantas blieben zurück.
"Was hatte das zu bedeuten?" fragte Sasana verwundert.
"Das geht nur Barantas und mich etwas an", sagte Sesin sehr freundlich und mit wesentlich leiserer Stimme als zuvor.
"Laß nur", fiel Barantas ein. "Ich hätte es ihr längst sagen müßen. Sie soll die Erklärung von mir hören." Und Sasana zugewandt fuhr er fort:
"Du weißt, dass ich ein Elf bin. Als solcher bin ich hier im Farbenwald aufgewachsen. Doch mein Verhalten entsprach nie dem, was der Große Elfenrat von einem Elfling erwartet. Ich interessierte mich nie so recht für all das Zeug, mit dem sich ein normaler Elfling abgeben muß. Genau genommen war ich wohl eine ziemliche Plage für alle im Farbenwald. Und weil es mit mir immer Ärger gab, wurde mir, als ich mich entschlossen hatte, dem normalen Elfenleben den Rücken zu kehren, die Rückkehr in den Farbenwald verboten. Dieses Verbot habe ich heute zum ersten Male gebrochen. Darum mußte die Wächterin des Waldes mich so behandeln, wie Sesin es vorhin tat."
Sasana sah Sesin an. Diese nickte wieder mit dem Kopf.
"Die lange Zeit deiner Abwesenheit scheint dir gut bekommen zu sein. Vielleicht gibt es ja doch Hoffnung für dich. Nun kommt aber alle wieder mit zurück zu meiner Hütte. Wir müßen darüber reden, wie wir Gorama helfen können."
"Und Togur", fügte Barantas schnell hinzu.
Sesin, die sich schon umgewandt hatte und losgehen wollte, hielt noch einmal inne. Nach einem langen Blick auf Barantas sagte sie: "Und vielleicht auch Togur."
Dann schwebte sie los, gefolgt von den vier anderen.
"Warst du wirklich ein so schlimmer Elfling?" fragte Sasana flüsternd. Barantas gluckste in sich hinein.
"Noch viel schlimmer, als du dir vorstellen kannst", antwortete er ebenso leise.
"Und noch viel schlimmer, als er bereit ist, dir zu erzählen", ergänzte Sesin, die trotz der Flüsterei sehr genau mitbekommen hatte, was hinter ihr vor sich ging.
"Ich habe mich schon damals gefragt, wie sie es fertig bringt, Dinge zu hören, die nur einen Hauch lauter sind, als Gedanken", meinte Barantas.
"Und ich habe mich schon damals gefragt, warum du nicht lieber denkst, statt zu reden", erwiderte Sesin.
"Sie hat sich überhaupt nicht geändert", murrte Barantas. "Immer muß sie das letzte Wort haben."
"Du hast dich immerhin ein wenig geändert", sagte Sesin. "Jedoch nicht genug, um zu erkennen, dass es nicht auf das letzte Wort ankommt, sondern auf das richtige."
Sasana mußte über dieses kurze Gespräch unwillkürlich lachen. "He, ihr beiden, ihr könnt wohl nicht anders, als euch gegenseitig hochzunehmen?"
Barantas setzte zu einer Antwort an, besann sich dann aber eines Besseren und lief schweigend weiter.
Sesin hatte sich ganz auf ihre Ohren konzentriert, um zu hören, ob der Elf etwas von sich gab. Als sie feststellte, dass er dazu keine Anstalten machte, schmuggelte sich ein Lächeln auf ihre Gesichtszüge. ´Er hat sich wirklich geändert,` dachte sie bei sich. ´Vielleicht läßt sich da ja doch noch etwas machen.`

Zeichnung von Hanne H.

In der Hütte der Wächterin des Farbenwaldes nahmen alle auf einem der vielen weichen Mooskissen Platz, die als Sitzgelegenheiten dienten. Nur Stolzbrust ließ sich unmittelbar auf dem harten Boden nieder.
"So", sagte Sesin, "nun laßt uns überlegen, was wir machen können."
"Das ist doch ganz einfach", warf Una ungeduldig ein. "Wir ziehen mit möglichst vielen Elfen in dieses Gebirge und suchen dort so lange, bis wir die Taube gefunden haben."
"Das ist eine gute Idee", sagte Sasana. "Und meinst du, dass sich genügend Schwestern bereit finden, dabei mitzumachen?"
"Da habe ich nicht den geringsten Zweifel", antwortete Una sehr überzeugt.
"Nicht so schnell", versuchte Sesin die beiden Freundinnen zu zügeln. "Natürlich würden sehr viele unserer Schwestern bei der Suche helfen. Vielleicht gibt es aber einen besseren Weg, als eine solche große Suchaktion zu starten."
"Was könnten wir denn sonst noch tun?" fragte Sasana.
"Mal sehen", sagte Sesin. "Ich werde das Gefühl nicht los, als hätte Togur doch etwas mit dem Verschwinden von Gorama zu tun."
Stolzbrust meldete sich zu Wort: "Er behauptet aber, die Taube nicht gesehen und auch nichts getan zu haben, was einer Taube hätte schaden können. Und dabei machte er mir nicht den Eindruck, als würde er lügen."
"Ich sage ja auch nicht, dass Togur gelogen hätte", warf Sesin ein.
"Glaubst du, er hat nur vergessen, was er getan hat?" fragte Una.
"Das glaube ich nicht", überlegte Sasana. "Nachdem Barantas ihn mit den Edelsteinen behandelt hatte, erinnerte Togur sich an alles, was in den Tagen zuvor geschehen war."
Barantas stimmte ihr zu: "Auf die Wirkung der Edelsteine kann man sich verlassen - auch, wenn sie nicht lange vorhält."
Nun verstummte das Gespräch für eine Weile, weil alle Anwesenden hin und her überlegten, ob es nicht noch eine Lösung gab, an die sie bisher nicht gedacht hatten. Stolzbrust stieß schließlich einen tiefen Seufzer aus: "Also ich bin die Ereignisse der letzten Tage inzwischen oft in Gedanken durchgegangen. Es könnte ja sein, dass ich einen Hinweis übersehen habe. Ich weiß aber beim besten Willen nicht, was dies sein könnte. Ich gebe auf und stimme für die Suchaktion."
Sasana nickte und sagte: "Ich kann mich nur an die Zeit erinnern, bevor ich zu diesem blöden Smaragd am Wegesrand wurde und dann erst wieder an das, was sich in der Bibliothek des Turmes zugetragen hat. Was zwischendurch passierte, weiß ich natürlich nicht. Auch ich bin dafür, die Suche zu starten."
Nun war Barantas an der Reihe: "Ich kann nur über das berichten, was ich gemeinsam mit Togur in seinem Turm, in meiner Höhle, dann im Beisein von Stolzbrust und später von Sasana erlebt habe. Nichts davon scheint mir aber einen Hinweis auf Goramas Verschwinden zu geben. Auch mir fällt nichts anderes ein, als eine große Suchaktion."
"Eure gemeinsame Erinnerung ist so löcherig, wie die von Togur, der sich an manche Dinge schon nach wenigen Minuten nicht mehr erinnern kann, dafür aber an vieles, was schon Jahre zurückliegt", trug Una ihre Meinung bei. "Da ich aber auch keine neue Idee habe, werden wir wohl nur die Suche organisieren können."
Nun blickten alle auf Sesin. Diese hatte bei Unas Worten verdutzt dreingeschaut und schien jetzt angestrengt über etwas nachzudenken. Dabei murmelte sie einzelne Worte vor sich hin, die jedoch für die anderen keinen Sinn ergaben:
"An vieles kann er sich erinnern...vieles...die Wirkung der Edelsteine...sie hält nicht lange vor...hmh... ."
Und dann sprang sie von ihrem Sitz auf und stand stocksteif mitten im Raum. Dabei schien sie ins Leere zu starren.
"Das könnte es sein", rief sie plötzlich aus. "Das könnte es sein. Die Frage ist nicht, wie lange sie vorhält, sondern, wie weit sie zurückgeht."
Die anderen verstanden kein Wort.
"Wovon sprichst du?" fragte Barantas.
"Warte noch einen Moment. Beantworte du mir zuerst noch einige Fragen", erwiderte Sesin. "Du besitzt doch sicher auch viele wertvolle Bücher, ganz so wie Togur." Erwartungsvoll sah sie den Zauberer an.
Dieser nickte und sagte: "Na, und ob. Diese Bücher sind mein ganzer Stolz."
"Das dachte ich mir", stieß Sesin eilig hervor. "Und du machst dir sicher Gedanken darüber, wie du sie schützen kannst, wenn du dich einmal nicht bei deiner Höhle aufhältst - zum Beispiel, weil du Togur besuchen gehst."
"Das muß er nicht", mischte Stolzbrust sich ein. "Seine Höhle ist beinahe noch besser versteckt, als Togurs Turm. Selbst mit meinen Adleraugen konnte ich sie erst entdecken, als er sie von innen öffnete."
"Sehr richtig", bestätigte Barantas. "Und außerdem habe ich noch einige Vorkehrungen für den Fall getroffen, dass doch jemand zufällig über den Eingang meiner Höhle stolpern sollte, wenn ich nicht zuhause bin."
"Auch das dachte ich mir", freute sich Sesin. "Und wie lange ist es her, dass du diese ... Vorkehrungen getroffen hast?"
"Gleich nachdem ich die Höhle bezogen hatte, also schon vor etlichen Jahren", antwortete Barantas und plötzlich leuchtete sein Gesicht auf. "Du meinst also ... das kann natürlich sein. Verflixt, warum habe ich nicht selbst daran gedacht. Kein Wunder, dass Togur sich nicht erinnern kann, wenn selbst ich etwas übersehe, was so offen vor meinen Augen liegt."
"Wovon in aller Welt redet ihr eigentlich?" wollte Stolzbrust wissen.
"Ich glaube, ich weiß, woran die beiden denken", wandte sich Sasana an ihren Freund. "Barantas hat Vorkehrungen für den Fall getroffen, dass jemand seine Höhle entdeckt, der dort nichts zu suchen hat. Liegt es da nicht sehr nahe, dass sich auch Togur schon vor langer Zeit für seinen Turm etwas hat einfallen lassen? Und vielleicht gehört dies zu den Dingen, an die er sich eben nicht mehr erinnert. Wir haben ihn jedenfalls nach der Behandlung mit den Edelsteinen nicht danach gefragt. Es könnte also sein, dass Gorama bei dem Turm eintraf und dort von einer solchen ... Vorkehrung ... erwischt wurde."
"Vorkehrung ... Vorkehrung...", Stolzbrust verstand nicht so recht, worauf das alles hinauslief. "Was soll denn das sein? Redet doch bitte so, dass auch ich es verstehe."
"Nun, Barantas", fragte Una, "was könnten das für Vorkehrungen sein?"
Barantas druckste etwas herum. "Ich kann doch nicht einfach jedem verraten, was ihn erwartet, wenn er ohne mein Wissen in meine Höhle eindringt."
"Das würde uns auch nicht weiterhelfen", beruhigte Sesin den Elf. "Was wir wissen müßen ist, welche Überraschungen Togur für ungebetene Besucher vorgesehen hat. Nur darauf kommt es an."
"Dann muß ich sofort zu seinem Turm, um ihn zu fragen." Sasana war ganz aufgeregt. "Komm schon, Stolzbrust, werde zum Adler für mich und auf geht’s."
"Und was tust du, wenn Togur sich nicht erinnern kann?" wollte Sesin wissen.
"Dann laß ich ihn eben Edelsteine schlucken, bis es ihm wieder einfällt", rief Sasana.
Barantas schüttelte den Kopf: "Ich glaube nicht, dass dies helfen würde. Sesin hat es schon gesagt. Die Frage ist tatsächlich, ob sich Togur nach einer Behandlung mit Edelsteinen auch an Dinge erinnern kann, die nicht nur wenige Stunden oder Tage, sondern vielleicht sogar Jahre zurückliegen. Wir wären doch nicht noch immer auf der Suche, wenn wir schon Edelsteine gefunden hätten, die dies erreichen könnten."
"Na, toll", warf Stolzbrust mißmutig ein. "Dann sind wir wieder so weit, wie vorher auch."
"Oh nein", widersprach Sesin. "Wir stehen kurz vor der Lösung. Seid unbesorgt. Morgen werden wir alles wieder ins Lot bringen."
"Morgen?" protestierte Sasana heftig. "Wir können doch nicht bis morgen warten!"
"Das werden wir leider müßen, meine Liebe", sagte Sesin mit sanfter, tröstender Stimme. "Wirf nur einen kurzen Blick nach draußen und sage mir dann, was du siehst."
Sasana wandte ihren Kopf der Fensteröffnung zu. "Was soll ich schon sehen können, es ist doch dunkel draußen."
"Na eben", stellte Sesin fest. "Über unsere Beratungen ist es Nacht geworden. Es hat nicht sehr viel Sinn, bei Dunkelheit loszufliegen. Außerdem muß ich erst noch einige Vorbereitungen treffen. Dazu brauche ich aber Tageslicht. Keine Widerrede mehr, es ist Zeit schlafen zu gehen. Der morgige Tag wird noch anstrengend genug. Da brauchen wir jetzt unseren Schlaf."
Dies sagte sie mit so bestimmter Stimme, dass sich alle fügten und erhoben. Als auch Barantas ihre Hütte verlassen wollte, hielt Sesin ihn zurück.
"Geht ihr nur schon voraus", sagte sie zu Una, Sasana und Stolzbrust. "Mit Barantas muß ich noch ein Wörtchen reden. Immerhin muß ich dem Großen Elfenrat darüber berichten, dass er sich über das Verbot hinweggesetzt hat, den Farbenwald je wieder zu betreten."
Daraufhin wandte sich Sasana noch einmal an Sesin, bevor sie sich Una und Stolzbrust anschloß:
"Sei bitte nicht zu streng mit ihm. Er ist ein lieber Kerl und hat mir sehr geholfen."
"Sei nur ganz beruhigt. Das wird natürlich auch eine Rolle spielen. Doch nun geh und schlafe gut", antwortete Sesin.
Während Sesin und Barantas also zurückblieben, machten sich die zwei anderen Elfen und der Hirsch auf den Weg zum Rand des Festplatzes. Dort richteten sie sich Schlafstätten und begaben sich zur Ruhe. Und weil ihnen Sesins Worte Hoffnung gegeben hatten, schliefen die drei in dieser Nacht einigermaßen beruhigt ein.



Für die Zeichnung danke ich sehr herzlich Hanne H.
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